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Geschichte Linksterrorismus

Warum sich Ulrike Meinhof wirklich das Leben nahm

Am 8./9. Mai 1976 erhängte sich Ulrike Meinhof in ihrer Stuttgarter Zelle. Ihre RAF-Genossen verbreiteten die Mär von einer Hinrichtung. Der Sender Phoenix zeigt: Viele Rätsel sind ungelöst.
Leitender Redakteur Geschichte

Ausgerechnet in der Nacht vom 8. Mai auf den 9. Mai. 1976 waren das die Stunden zwischen dem 31. Jahrestag des Kriegsendes in Europa und – Muttertag. Irgendwann in dieser Nacht, wann genau ist unbekannt, stieg die zweifache Mutter Ulrike Meinhof in ihrer Zelle im siebten Stock des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim auf einen Schemel, legte einen Strick aus aneinandergeknoteten Stücken zerrissener Anstaltshandtücher um ihren Hals und sprang.

Am folgenden Sonntagmorgen gegen 7.34 Uhr schloss der diensthabende Justizbeamte den „Häftlingsverwahrraum“ 719 auf – und musste mit Erschrecken feststellen, dass die bekannteste Terroristin des Landes am Gitter ihres Zellenfensters hing. Alle Versuche zur Wiederbelebung waren umsonst: Ulrike Meinhof war schon kalt. Einen Abschiedsbrief hatte sie nicht hinterlassen.

Umgehend wurde eine Obduktion angeordnet, die ein klares Ergebnis erbrachte: Selbstmord durch Strangulierung – keine Fremdeinwirkung. Das wollte Meinhofs Schwester nicht glauben, denn ihr hatte Ulrike gesagt, ein Selbstmord käme für sie nicht infrage. Die Schwester und Meinhofs Verteidiger verlangten und bekamen eine zweite Obduktion, mit identischem Ergebnis.

Trotzdem verkündete der Mitangeklagte Jan-Carl Raspe vor Gericht wenig später: „Wir glauben, dass Ulrike hingerichtet worden ist. Wir wissen nicht, wie, aber wir wissen, von wem.“ Natürlich verschwieg er, was Meinhof einige Monate zuvor an den Rand eines illegalen, mithilfe der Rechtsanwälte in Umlauf gebrachten Zellenrundbriefes geschrieben hatte: „Selbstmord ist der letzte Akt der Rebellion.“

Der öffentlich-rechtliche Dokumentationskanal Phoenix nimmt den 40. Jahrestag von Meinhofs Suizid zum Anlass, das Schwerpunktthema RAF-Terrorismus zu starten. Am Sonntag, dem 8. Mai, zeigt der Sender eine Reihe von Dokumentationen und abends den zweiteiligen Spielfilm „Der Baader-Meinhof-Komplex“ nach dem gleichnamigen Buch von „Welt“-Chefredakteur Stefan Aust. Zusätzlich gibt es eine Website mit ergänzenden Texten und Interviews sowie eine Diskussionsrunde, moderiert von Guido Knopp, dem langjährigen Chefhistoriker des ZDF.

„Versucht, an Mittel zu kommen, um ihr Leben zu finanzieren“

Seit Jahren wird nach den RAF-Terroristen Garweg, Staub und Klette gefahndet. Nun gibt es neue Spuren: Sie stehen im Verdacht, mehrere Raubüberfälle verübt zu haben - offenbar aus Geldnot.

Quelle: Die Welt

Erst Mitte Januar 2016 lenkte eine DNA-Spur, die bei einem gescheiterten Raubüberfall gesichert worden war, die öffentliche Aufmerksamkeit zurück auf die Tatsache, dass die meisten Bluttaten der deutschen Linksterroristen zwischen 1970 und 1993 bis heute nicht aufgeklärt sind – und einige Illegale bis heute nicht aufgespürt werden konnten.

So sind nicht nur die gesuchten Linksextremisten Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg aus der dritten RAF-Generation immer noch untergetaucht. Ebenso unklar ist, wo die verschollenen Terroristinnen Ingeborg Barz, Friederike Krabbe, Angela Luther und Ingrid Siepmann abgeblieben sind. Möglicherweise sind sie alle tot – falls aber nicht, wären sie heute zwischen 65 und 76 Jahre alt. Leben einige von ihnen vielleicht im Nahen Osten? Oder gar unter falschem Namen wieder in Deutschland?

Die zweite RAF-Generation

Der Deutsche Herbst gilt als eine der schwersten Krisen der Bundesrepublik. Die Entführungen von Hanns Martin Schleyer und der „Landshut“ nötigten Schmidt die wohl schwierigsten Entscheidungen seiner Karriere ab.

Quelle: Die Welt

Ebenfalls nicht aufgeklärt ist die Mehrzahl der Morde der RAF. Wer tötete Generalbundesanwalt Siegfried Buback am Gründonnerstag 1977 in Karlsruhe? Christian Klar, Knut Folkerts oder Stefan Wisnieswski? Oder doch Verena Becker, wie Bubacks traumatisierter Sohn Michael nicht müde wird zu behaupten?

Und welcher Terrorist erschoss den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 18. Oktober 1977 im deutsch-französischen Grenzgebiet? Waren es entweder Rolf Heißler oder Stefan Wisniewski, wie der notorisch unzuverlässige Zeuge und Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock 2007 andeutete? Zehn Jahre zuvor hatte er Heißler als Täter indirekt noch ausgeschlossen. Verurteilt unter anderem für diese Tat wurde hingegen Rolf-Clemens Wagner, dessen Beteiligung heute als eher unwahrscheinlich gilt.

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Solange die zentralen Figuren der RAF schweigen, werden sich die Rätsel des Linksterrorismus nicht lösen lassen. Natürlich könnte Brigitte Mohnhaupt, die schon zur ersten Generation um Baader und Gudrun Ensslin gehört hatte, später die Anführerin der zweiten Generation wurde und bis zur Selbstauflösung der Terrorgruppe 1998 ihr dominierender Kopf blieb, wahrscheinlich alle offenen Fragen beantworten. Sie tut es nicht.

So bleibt nur die Annäherung an wahrscheinliche Szenarien. Mit dieser Methode kann man immerhin die Motive für Ulrike Meinhofs Selbstmord weitgehend klären: Sie befand sich im Frühjahr 1976 in einer psychischen Ausnahmesituation. Andreas Baader, an dem sie mit einer Mischung aus Liebe und absoluter Unterwürfigkeit hing, demütigte sie ein ums andere Mal: Er zerriss ihre nächtens getippten Traktate, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben, und verhöhnte sie.

Dann distanzierte sich Gudrun Ensslin am 4. Mai 1976 im Stammheimer Verfahren öffentlich von dem Anschlag auf das Verlagshaus von Axel Springer in Hamburg, den Meinhof im Mai 1972 eigenständig ausgeführt hatte. Ensslin sagt verquast, sie sei „auch verantwortlich für Aktionen von Kommandos, zum Beispiel gegen das Springer-Hochhaus, deren Konzeption wir nicht zustimmen und die wir in ihrem Ablauf abgelehnt haben“.

In diesem Moment muss der ehemaligen Journalistin Meinhof klar geworden sein, dass sie am Ende war. Jedenfalls zog sie sich weitgehend zurück und erhängte sich vier Tage später.

Doch selbst den Tod der Frau, die einst seine Befreiung ermöglicht hatte, nutzte Baader für seinen Kampf gegen den Staat aus: Er ließ über Anwälte und Sympathisanten die Behauptung verbreiten, Ulrike Meinhof sei kurz vor ihrem Tod vergewaltigt worden. Mit einiger Mühe brachten die Verteidiger eine allerdings nicht gerade prominent besetzte „Internationale Untersuchungskommission“ zusammen, die auftragsgemäß nach zweieinhalb Jahren zu dem „Ergebnis“ kam: „Die Behauptung der Behörden, Ulrike Meinhof habe sich durch Erhängen selbst getötet, ist nicht bewiesen, und die Untersuchungen der Kommission legen den Schluss nahe, dass sich Ulrike Meinhof nicht selber erhängen konnte.“

Allerdings war der Bericht dieser Kommission handwerklich so schlecht gemacht, dass er nicht ernst genommen werden konnte – zumal das entscheidende Problem nicht ansatzweise geklärt wurde: Was hätte der Staat vom Tod der Angeklagten Meinhof gehabt? Immerhin saß sie sicher hinter Schloss und Riegel und würde dort in jedem Fall für mehrere Jahrzehnte bleiben.

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